Editorial

Über das Gebot der Nächstenliebe wurde schon viel gepredigt und geschrieben. Zutiefst ist dieses in unserer Kirche verankert. Doch schon früh trieb es die Gläubigen in ein Dilemma. Wem sollten sie aus Nächstenliebe heraus helfen, Almosen und ein Obdach geben? Denn auch in alter Zeit überstiegen die Anfragen die Möglichkeiten und Mittel.

Bereits in der ältesten erhaltenen Kirchenordnung, der Zwölf-Apostel-Lehre (Ende 1. Jh. / Anfang 2. Jh.), wurde dieses Dilemma behandelt. Schon damals wurde entdeckt, dass es Menschen gab, welche die Nächstenliebe zu ihren Gunsten ausnutzten und sich auf Kosten der Gebenden bereicherten. Die Zwölf-Apostel-Lehre sucht hier Auswege. Zum einen ruft sie zu Grosszügigkeit und -herzigkeit auf, zum anderen aber plädiert sie auch für eine genaue Überprüfung. «Schwitzen soll dein Almosen in deinen Händen, bis du weisst, wem du es gibst.», so rät sie. Des weiteren stellt sie klare Regeln für Durchreisende auf. Die Rechenschaft über das, was gegeben wird, ist nur gegenüber Gott abzulegen, nicht gegenüber der bittstellenden Person. So versucht sie die Gläubigen davor zu bewahren ausgenutzt zu werden.

Gut zweitausend Jahre später hat sich an dem Dilemma nichts geändert. Auch heute versuchen Menschen immer noch die Grosszügigkeit und -herzigkeit auszunutzen. Doch mit dem Blick in die Geschichte unserer Glaubensgemeinschaft dürfen wir Entlastung erfahren. Wir sind nicht die Ersten, denen dies passiert, und wir werden auch nicht die letzten sein. Wir dürfen auf die bewährte Praxis all derer, die vor uns aus dem christlichen Glauben heraus gelebt haben, zurückgreifen und nach gewissenhafter Überprüfung entscheiden, wem wir in welcher Weise mit unseren Mitteln und Möglichkeiten helfen. Wir dürfen durch ihre Erfahrung lernen, das Gebot der Nächstenliebe auch an einen Selbstschutz zurückzubinden und dabei gleichzeitig grosszügig und -herzig zu bleiben.

Michael Jablonowski

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